Skip to content

Kümmer dich!

Jürgen Nerger – 09. Dezember 2025

Warum Verantwortung heute überall liegt. Nur nicht dort, wo entschieden wird.

Es ist auffällig, wie viele Probleme wir heute lösen sollen, ohne jemals gefragt zu werden, wer sie eigentlich verursacht hat. Die Aufgaben kommen leicht daher, formuliert als Einladung, nicht als Zumutung. Sie sprechen uns direkt an, duzen uns, loben unser Potenzial. Und sie enden fast immer mit demselben Subtext: Kümmer dich.

Kümmer dich um das Klima. Um deine Gesundheit. Um deine psychische Stabilität. Um deinen Medienkonsum. Um deine Altersvorsorge. Um den Ton der Debatte. Um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Am besten gleichzeitig. Und bitte eigenverantwortlich.

Was dabei kaum auffällt, ist die Eleganz dieser Verschiebung. Gesellschaftliche Probleme verlieren ihre Schwere, sobald man sie in persönliche Aufgaben übersetzt. Was vorher nach Struktur klang, klingt plötzlich nach Haltung. Was politisch lösbar wäre, wird zur Frage der inneren Einstellung. Verantwortung wird nicht mehr verhandelt, sie wird verteilt. Fein. Gleichmäßig. Bis sie niemandem mehr gehört.

Der Klimawandel wird zur Einkaufsliste. Arbeitsüberlastung zur Frage der Resilienz. Demokratie zur Sache der Medienkompetenz. Altersarmut zur didaktischen Herausforderung. Man hätte sich eben früher kümmern müssen. Um sich selbst. Um seine Entscheidungen. Um sein Leben als Projekt.

Das hat etwas Tröstliches. Und etwas ganz Brutales.

Wir nennen es Selbstverantwortung, meinen aber Selbstverwaltung. Wir sprechen von Empowerment und erwarten Anpassung. Freiheit wird nicht mehr als Gestaltungsmacht verstanden, sondern als Fähigkeit, mit immer weniger Einfluss gelassen umzugehen. Wer das nicht schafft, hat offenbar zu wenig an sich gearbeitet. So einfach ist das.

So funktioniert die neue Moral. Sie ist freundlich, verständnisvoll, gut gelaunt. Und sie kennt nur eine Richtung. Nach innen. Wer erschöpft ist, soll achtsamer werden. Wer wütend ist, soll reflektieren. Wer scheitert, soll lernen. Systeme bleiben unangetastet, weil sie schwer zu fühlen sind. Menschen dagegen sind verfügbar.

Das Absurde daran ist nicht die Forderung nach Verantwortung. Verantwortung ist etwas Gutes. Sie ist der Kern jeder funktionierenden Gesellschaft. Das Absurde ist, dass Verantwortung von Entscheidung getrennt wurde. Wir sollen alles tragen, aber nichts bewegen. Reagieren, aber nicht gestalten. Uns kümmern, aber nicht eingreifen.

So entsteht ein seltsames Gefühl von Dauerzuständigkeit ohne Wirksamkeit. Eine Erschöpfung, die sich nicht nach Burnout anfühlt, sondern nach Sinnverlust. Man tut ständig etwas Richtiges, ohne dass sich etwas ändert. Man bemüht sich, während alles bleibt, wie es ist.

Dabei ist Verantwortung keine Charaktereigenschaft. Sie ist eine Frage der Architektur. Sie entsteht dort, wo Zuständigkeiten klar sind, wo Entscheidungen getroffen werden dürfen, wo Konsequenzen sichtbar sind. Verantwortung braucht Räume. Und sie braucht Mut. Den Mut, Dinge nicht zu personalisieren, die strukturell gelöst werden müssen.

Gestaltung beginnt nicht mit Appellen, sondern mit Klarheit. Mit Sprache, die benennt, wer entscheidet. Mit Organisationen, die Verantwortung nicht weiterreichen, sondern halten. Mit einer Kultur, die nicht jede Zumutung psychologisiert. 

Niemand muss perfekt sein. Niemand muss alles können. Verantwortung wird leichter, wenn sie geteilt wird. Und Freiheit wird spürbar, wenn sie mehr ist als die Aufforderung, sich selbst zu optimieren.

Am Ende geht es nicht darum, weniger Verantwortung zu übernehmen. Sondern darum, sie zurückzuholen. Aus der Vereinzelung. Aus der Selbstbeschäftigung. Aus der ständigen Frage, ob man genug ist. Verantwortung gehört dahin zurück, wo Entscheidungen getroffen werden. 

Alles andere verschiebt Verantwortung nach unten, damit sie oben nicht getragen werden muss.

Das ist kein Fortschritt. Das ist organisierte Feigheit.

Interesse an weiteren Artikeln?

Jetzt lesen