In Zeiten des Ausbruchs.
Jürgen Nerger – 24. November 2025Ein anatomischer Blick auf das Nervensystem unserer Zeit.
„Ich sag ja nur meine Meinung.“ — Der vielleicht meistgesagte Satz der Gegenwart, und gleichzeitig die höflichste Art, unhöflich zu sein. Es ist erstaunlich, wie viele Menschen plötzlich „direkt“ sein wollen. Direkt heißt dann: laut, ungefiltert, beleidigt und jederzeit bereit zum verbalen Kurzschluss. Wir leben in einer Zeit, in der schlechte Manieren nicht mehr als Makel gelten, sondern scheinbar als interessanter Charakterzug. Als hätte die Welt kollektiv beschlossen, dass Empathie zwar schön ist, aber im Zweifel einfach zu anstrengend.
Dazu passt ein Zitat von Oscar Wilde: „Eine persönliche Beleidigung ist das stärkste Argument derer, die keines haben.“

2025
Man könnte meinen, er hätte 2025 gemeint. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass man in Talkshows, Timelines oder Teammeetings Menschen sieht, die ihre Meinung für eine Leistung halten und den Tonfall für Inhalt. Der Ton wird härter, weil die Nerven dünner werden. Und die Nerven werden dünner, weil wir kollektiv an einem Punkt angekommen sind, an dem Überforderung kein Zustand mehr ist, sondern Teil der kommunikativen Infrastruktur.
Man merkt es ja überall: im Straßenverkehr, wo selbst harmlose Situationen überproportional eskalieren. In Kommentarspalten, die inzwischen klingen wie Gruppentherapie ohne Therapeut. In der Politik, wo Erregung längst erfolgreicher ist als jedes Argument. Und im Alltag, wo „Ich bin halt ehrlich“ als Tarnkappe für jede Form von Ruppigkeit dient. Unsere Gesellschaft wirkt manchmal wie ein überkochender Topf, dessen Deckel nur noch aus Resthöflichkeit besteht. Schon ein kleiner Stoß genügt und die ganze Brühe schwappt über. Zwischen Arbeitsdruck, Weltschmerz und algorithmisch verstärkter Erschöpfung hat sich ganz nebenbei ein Klima entwickelt, in dem Gereiztheit wie eine natürliche Ressource behandelt wird: Wut als Workflow sozusagen. Ruppigkeit als Rhetorik. Genervtheit als Grundausstattung. Das nennt man dann gerne „Ehrlichkeit“, „Authentizität“ oder „Direktheit“, aber eigentlich ist es nur Frechheit. Im Tarnanzug. Ein Schutzmechanismus, der so tut, als wäre er eine Tugend.
Dass dieses Muster längst weit über unser privates Sozialverhalten hinausgeht, sieht man an jenen Momenten, die innerhalb von Minuten viral gehen. Wenn sich Politiker:innen in Talkshows anschreien wie Paare kurz vor der Trennung. Oder Sportmoderatoren Interviews abbrechen, weil sie sich missverstanden fühlen. Wenn CEOs auf Konferenzen Sätze sagen, die klingen wie der schlecht gelaunte Zwilling ihrer eigenen Kommunikationsabteilung. Und überall schwingt die gleiche Choreo mit:
Sanft verdünnter Trumpismus.
Das ist kein rein politisches Konzept, sondern bereits ein kulturelles. Die Idee, dass Lautstärke automatisch Recht erzeugt. Dass Empathie ein Zeichen von Schwäche ist. Und dass jedes Gespräch unbedingt ein Wettkampf sein muss. Wie anstrengend.
Das wirklich Erschreckende ist allerdings nicht, dass solche Ausfälle überhaupt stattfinden, sondern wie normal sie geworden sind. Früher hätte man sich für solche Szenen geschämt und sich kurz darauf entschuldigt. Heute werden sie gedeutet wie Mutproben: „Hahaha, endlich sagt hier mal jemand, was Sache ist.“ Dabei sagt selten jemand „die Sache“. Meist sagt jemand nur die eigene Gereiztheit laut auf und alle nicken, weil wir uns in dieser Gereiztheit offensichtlich wiedererkennen. Ein gesellschaftlicher Spiegel, der uns nicht schöner macht, aber ehrlicher.
Als hätte die Welt kollektiv beschlossen, dass es keine Zwischentöne mehr braucht. Ironie wird zum Angriff, Kritik zur Kriegserklärung, und jede Form von abweichender Meinung wird behandelt wie ein persönlicher Affront. Attacke! Kein Wunder, dass Konflikte eskalieren wie schlecht moderierte Gruppenchats. Ein Komma allein reicht, um eine nationale Krise auszulösen. Wir stolpern durch eine Welt, die jeden Tag komplexer wird, und reagieren darauf mit der einfachsten aller Techniken: Ellbogen raus und Rücksicht sparen. Nicht, weil alle böse wären. Wohl eher, weil unsere innere Restenergie kaum noch ausreicht, um freundlich zu bleiben.
Es wird also höchste Zeit, wieder menschlicher miteinander umzugehen. Ohne Drama, und ständiges Dauerfeuer. Die Welt wird nicht freundlicher, wenn wir uns an ihr abarbeiten wie an einem Gegner. Sie wird freundlicher, wenn wir den Ton behalten, auch wenn die Welt ihn gerade verliert. Also: Seid nett zueinander!

