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Geschmack ist kein Vorschlag.

Jürgen Nerger – 13. Mai 2025

„Mach mal Musik an.“ 

Ein Satz, der früher die Stimmung bestimmt hat. Heute startet er einen Verhandlungskrieg mit dem Algorithmus. Er liefert, was gefällt – aber nichts, das berührt.

Früher hattest du Lieblingsbands. Heute hast du Playlists.

Und ein System, das dich für berechenbar hält. Es kennt deinen Geschmack – aber nur rückwärts. Es spielt dir alles vor, was du schon kennst. Schon magst. Schon gehört hast. Und nennt das: Empfehlung. Doch Geschmack entsteht nicht durch Wiederholung. Sondern durch Reibung. Durch Dinge, die du nicht suchst – und trotzdem findest. Durch Songs, die dich verstören. Und dann nicht mehr loslassen. Willkommen in der Ära der geschmacklosen Effizienz. 

Die Formel funktioniert. Aber schmeckt sie auch? 

Du magst es. Also bekommst du mehr davon. Mehr, was so klingt. So aussieht. Sich so anfühlt. Der Algorithmus glaubt, dich zu kennen – aber was er wirklich kennt, ist dein vergangenes Klickverhalten. Nicht dein zukünftiges Staunen. Nicht deinen Widerspruch. Nicht deine Sehnsucht. Geschmack ist keine Rückschau. Geschmack ist ein Wagnis. Ein Sprung ins Ungewisse. Ein: Ich weiß nicht, warum – aber es berührt mich. Und genau das kann der Algorithmus nicht. Er kennt Wahrscheinlichkeiten, keine Möglichkeiten. Er produziert Treffer, keine Trefferquote. 

Kultur ist kein Wohlfühlfilter. 

Früher wusstest du nicht, was du hören wolltest – bis es dich getroffen hat. Heute weiß dein Feed, was du willst, noch bevor du dich selbst entschieden hast. Das klingt bequem. Ist es aber nicht. Denn was verloren geht, ist nicht Information, sondern Irritation. Nicht Orientierung, sondern Überraschung. Der Algorithmus optimiert auf Bleiben, nicht auf Begegnen. Auf Clicks, nicht auf Kontext. Auf Quantität, nicht auf Qualität. Was dabei übersehen wird: Geschmack braucht Reibung. Er wächst durch Widerstand. Durch Fremdheit. Durch das, was sich dem schnellen Gefallen verweigert. 

Die große Gleichmachung. 

Scrolle dich einmal durch einen beliebigen Feed. Was du siehst, ist oft nicht schlecht – aber auch selten gut. Es ist vor allem: gleich. Sound-Ästhetik, Schnittfolgen, Typografie, Thumbnails, Titel: Alles fügt sich ein ins große Spiel der Ähnlichkeit. Die Diktatur der Templates tarnt sich als Trend. Aber was aussieht wie Bewegung, ist oft nur Variation des Immergleichen. Das Rad dreht sich schneller – aber selten weiter. 

Geschmack ist unvernünftig. 

Vielleicht liegt genau hier der Kern des Problems: Der Algorithmus ist zu vernünftig. Zu rational. Zu effizient. Aber Geschmack? Geschmack ist trotzig. Er widerspricht dem Mainstream, dem Mittelwert, dem Erwartbaren. Er sagt:

Ich will das hören, obwohl es niemand kennt. Ich will das sehen, obwohl es mich verstört. Ich will das denken, obwohl es unbequem ist.

Geschmack ist nicht logisch. Sondern biografisch. Er trägt Spuren unserer Herkunft, unserer Fehler, unserer Obsessionen. Und deshalb kann er nicht berechnet werden. Nur entwickelt. Langsam. Persönlich. Mutig. 

Maschinen imitieren – Menschen riskieren. 

Künstliche Intelligenz kann Stile simulieren, Geschichten strukturieren, Songs generieren. Aber sie kann nichts riskieren. Sie kennt keine Angst. Keine Eitelkeit. Kein „Ich mach das jetzt trotzdem.“ Und genau deshalb bleibt sie geschmacklos. Nicht, weil sie nichts kann – sondern weil sie alles können muss. Geschmack entsteht dort, wo jemand etwas macht, das nicht funktionieren sollte. Und es dann trotzdem tut. Eine schräge Melodie. Ein kaputter Film. Eine unbequeme These. Die Dinge, bei denen du erst später merkst: Das hat mich verändert. 

Die Rückeroberung beginnt nicht offline – sondern anders. 

Wir müssen nicht offline gehen. Auch nicht asketisch werden. Es geht nicht darum, das Digitale zu verteufeln – sondern es klug zu nutzen. Nicht passiv zu empfangen, sondern aktiv zu kuratieren. Nicht dem Vorschlag zu folgen, sondern der eigenen Intuition. Denn der Algorithmus ist kein Feind. Aber auch kein Freund. Er ist ein Werkzeug. Wir entscheiden, wie wir es verwenden. Und ob wir uns selbst dabei verlieren. Was wir brauchen, ist kein digitaler Exodus. Sondern ein neues Verhältnis zur Aufmerksamkeit. Ein Gespür für das, was bleibt – nicht nur das, was zieht. Ein Geschmack, der trotzdem entsteht. 

Der Algorithmus wird dir weiterhin alles vorspielen, was du gestern mochtest.

Er wird dich lieben, solange du bleibst. Und dich verlieren, sobald du dich bewegst. Aber Geschmack? Der beginnt dort, wo du dich traust, etwas nicht zu mögen. Und dann: bewusst wählst, was du wirklich willst. Weil du weißt: 

Du bist nicht dein Feed. Aber dein Geschmack – das bist du. 

Persönlicher Vorschlag für Geschmacksverstärker:


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