Du bist nicht dein Feed.
Jürgen Nerger – 6. Mai 2025How storytelling killed the story.
Meine Mutter hat früher gesagt: „Man muss nicht alles erzählen.“ Ich glaube, das war, bevor das Erzählen wichtiger wurde als das Leben selbst. Wir leben in einer Welt, in der jedes Gefühl, jede Geste, jede Erinnerung potenziell verwertbar ist. Nicht für uns selbst – sondern für ein Publikum, das wir nie kennengelernt haben. Was früher ein Tagebuch war, ist heute ein Feed. Was früher ein Gespräch war, ist heute ein Posting. Und was früher ein Moment war, ist heute: Content.
Content.
Er soll etwas sagen. Etwas bedeuten. Etwas einbringen. Vielleicht sogar: Klicks, Likes, Jobs, Relevanz. Aber egal, wie viel Mühe wir uns geben – es bleibt dabei: Wir erzählen nicht mehr, um zu verstehen. Wir erzählen, um zu bestehen. „Content“ ist keine Form mehr. Es ist ein Zustand. Ein Lebensstil. Eine Krankheit mit WLAN. Und vielleicht ist das das Tragischste daran: Wir haben angefangen, unser Leben zu erzählen – noch bevor wir es überhaupt erlebt haben.
Früher saßen wir um ein Feuer und lauschten einer Stimme. Einer Einzigen. Der Erzähler war kein Star, sondern ein Träger von Bedeutung. Geschichten waren langsam, zäh, voller Leerstellen. Manchmal dauerte es Jahre, bis eine Geschichte rund wurde. Und manchmal blieb sie unvollständig – genau deshalb lebendig. Heute sitzen wir vor unseren Displays. Wir hören nicht mehr zu. Wir wischen. Wir wollen keine Geschichten, wir wollen Ergebnisse. Ein gutes Ende, eine klare Moral, einen Call-to-Action. Die Märchen unserer Kindheit endeten mit „Und wenn sie nicht gestorben sind …“ Die Märchen unserer Gegenwart enden mit: „Link in Bio“.
Content ist nicht mehr das Feuer. Es ist der Strom, der die Hütte beleuchtet – grell, flimmernd, überhitzt. Und wenn wir nicht aufpassen, brennt sie irgendwann ab. Content ist nie harmlos. Auch wenn er in Pastellfarben daherkommt, mit Meditationsmusik unterlegt und einem sanften „Ich wollte das einfach mal teilen …“ beginnt – er will etwas. Aufmerksamkeit. Interaktion. Sichtbarkeit. Vielleicht sogar Geld.
Tutorials, Kurse, Workshops
Und so wird jeder Schmerz zur Pitch-Präsentation. Jeder Moment zur Marke. Jede Träne zur Thumbnail-Tragödie. Es gibt Tutorials fürs Trauern. Kurse für echte Authentizität. Workshops für „dein persönliches Storytelling“. Und unter allem liegt die gleiche, unausgesprochene Logik: Wenn du es nicht teilst, existiert es nicht.
Aber: Wer entscheidet eigentlich, was „guter“ Content ist? Der Algorithmus. Und der mag kein Zögern. Kein Zweifel. Kein Dazwischen. Er will Klarheit, Tempo, Haltung – auch wenn du sie gerade nicht hast. Also erzählen wir weiter. Wir erzählen uns stark, fröhlich, erfolgreich. Wir erzählen uns gesund. Bis wir irgendwann vergessen, dass wir krank waren. Wir sind erschöpft. Nicht, weil wir zu viel fühlen – sondern weil wir zu viel zeigen müssen. Wir ringen um Sichtbarkeit, um Relevanz, um die Gnade des Algorithmus – und merken dabei kaum, dass wir uns selbst verlieren. Nicht, weil wir zu wenig posten. Sondern weil wir längst vergessen haben, wie sich etwas anfühlt, das nicht gepostet werden will.
Jeder Moment wird begleitet von einem inneren Regisseur: „Wäre das eine gute Story?“ „Wäre das ein guter Clip?“ „Wie würde das in meinem Profil wirken?“ Es ist ein Doppelleben geworden. Das echte Ich lebt irgendwo zwischen zwei Captions. Das andere Ich – das geformte, gefilterte, strategisch platzierte – performt. Rund um die Uhr.
Und dann passiert es:
Du hast einen echten Moment. Ungefiltert. Intensiv. Und dein erster Impuls ist: „Ich muss das teilen.“ Nicht, weil du anderen etwas mitteilen willst. Sondern weil du sonst nicht sicher bist, ob es überhaupt stattgefunden hat. Jean Baudrillard nannte es einst „das Zeitalter der Simulation“ – eine Welt, in der das Abbild wichtiger wird als das Original. Was damals wie Philosophie klang, ist heute Alltag. Wir erleben nicht mehr – wir erzeugen Erlebbarkeit. Und das meiste davon hat nie wirklich stattgefunden.
Die echte Erfahrung ist langsam. Unbequem. Unklar. Sie braucht Zeit, Wiederholung, Irritation. Doch unsere Gegenwart ist nicht gemacht für solche Prozesse. Sie will sofortige Reaktion. Sofortige Verwertung. Sofortige Bedeutung. Und so verkümmert die Erfahrung zu einem Symbol ihrer selbst. Eine Wanderung wird zur Drohnenaufnahme. Ein Kuss wird zum Boomerang. Eine Krise wird zur Kolumne. Wir halten nichts mehr aus, das nicht dokumentiert werden kann.
Das Problem ist nicht, dass wir erzählen. Das Problem ist, dass wir aufhören zu fühlen, wenn wir erzählen. Denn wer immerzu erzählt, ist nicht mehr Teil der Geschichte. Er steht daneben. Mit Kamera. Und Plan. Vielleicht braucht es gar keine große Revolution. Vielleicht reicht es, ab und zu die Kamera nicht zu zücken. Den Impuls zu teilen – durchziehen zu lassen. Einen Moment einfach nur sein zu lassen. Nicht als Geste. Nicht als Statement. Nicht als stillen Protest gegen das System. Sondern weil er es verdient hat, ganz für sich zu existieren.
Vielleicht sollten wir wieder lernen, Geheimnisse zu haben. Gedanken, die niemand liked. Bilder, die nur in uns entstehen. Erinnerungen, die nicht abrufbar sind, sondern nur spürbar. Und vielleicht – ganz vielleicht – entsteht genau daraus wieder etwas Echtes. Kein Content. Sondern ein Gefühl. Eine Ahnung. Ein Leben, das sich nicht erzählen lässt. Nur erleben.