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Archiv der ungemachten Dinge 

Jürgen Nerger – 18. November 2025

Notizen aus dem Land des Später.

Fortschritt ist das Zauberwort unserer Zeit. Es steht in Strategiepapiere gemeißelt, leuchtet von Konferenzbühnen, sitzt auf jeder zweiten Agenturfolie wie ein frisch verliehenes Gütesiegel. Man kann heute kaum einen Satz über Politik, Wirtschaft oder Gesellschaft sagen, ohne irgendwo „Transformation“ hineinzuschmuggeln. Alles soll sich ändern.

Nur wir nicht.

Denn in der Theorie sind wir eine hochgradig wandelbereite Spezies. Wir fordern tiefgreifenden Klimaschutz, gerechtere Systeme, nachhaltige Produktion, gesündere Ernährung, ein besseres Miteinander. In der Praxis sind wir leider Menschen, die beim Lieferservice „wie immer“ ankreuzen. Zwischen Anspruch und Alltag klafft eine Lücke, so groß, dass problemlos ein Kreuzfahrtschiff hindurchfahren könnte. Im oberen Deck werden Klimaziele verabschiedet, unten am Buffet gibt’s Schnitzel à discrétion. Man muss sich nur die letzten Jahre anschauen: Rekordhitze jagt Rekordhitze, Waldbrände, Überschwemmungen, Dürren – und parallel steigen Flugzahlen, Autozulassungen und Paketvolumen. Die Kurven für Temperatur und Konsum zeigen beide nach oben, wie ein doppelter Mittelfinger in Diagrammform.

Wir reagieren darauf, wie wir auf alles reagieren: mit Kommunikation. Es werden Ziele formuliert, Fahrpläne angekündigt, Roadmaps vorgestellt. Und wenn sich herausstellt, dass das alles nicht funktioniert, werden nicht etwa die Gewohnheiten verändert, sondern die Ziele. Man nennt das dann „Anpassung“, „Nachschärfung“ oder „Realitätscheck“. 

Fortschritt als Power Point-Trick:

Wenn die Realität stört, wird sie umformuliert.

Der Kern des Problems liegt an einer Stelle, die einfach niemand mag: Wirkliche Veränderung braucht Verzicht. Nicht als Symbol, nicht als Kampagne, nicht als Testballon, sondern als ganz reale Einschränkung. Weniger Flüge. Weniger Fleisch. Weniger Zucker. Weniger Tempo. Weniger „Ich zuerst“. Weniger mehr. Genau an dieser Stelle bricht die Begeisterung leider schnell ab. Wir lieben Veränderung als Idee. Wir hassen sie als Eingriff.

Also erfinden wir ein Modell, das besser zu uns passt: Wir behandeln Veränderung wie ein Abonnement. Alles kündbar, nichts endgültig, jederzeit pausierbar. Klimaschutz? Erstmal unverbindlich testen. Weniger Konsum? Ab in den Warenkorb, aber noch nicht bestellen. Verzicht? Drei Monate gratis, danach automatische Verlängerung. Das merken wir dann nicht so schnell. Und so lebt es sich ganz angenehm im Dauerabo der eigenen Ausreden. Politik spiegelt dieses Verhalten fast schon rührend exakt. Statt unpopuläre Entscheidungen zu treffen, simuliert sie Entschlossenheit. Es gibt Gipfel, Pakete, Bündnisse, Papiere, Kommissionen. Man arbeitet sich an Formulierungen ab, während die eigentlichen Probleme draußen weiterlaufen wie ein undichter Wasserhahn. Was nach außen aussieht wie Fortschritt, ist innen oft nur Schadensbegrenzung für Umfragewerte.

Das Bittere daran: An Wissen mangelt es nicht. Wir wissen sogar ziemlich genau, was passieren müsste. Man kann heute zum Beispiel – ohne großen Rechercheaufwand – herausfinden, wie viel CO₂ ein Flug verursacht, wie massiv Fleischproduktion die Umwelt belastet, was Fast Fashion für Ressourcen frisst und wie ungesund unser Konsumtempo ist. Wir leben schließlich im datenreichsten Zeitalter der Menschheitsgeschichte, handeln aber so, als wäre alles nur eine interessante Fußnote. Das wirkt häufig fast so, als hätten wir Fortschritt mit Deko verwechselt.

Wir lieben Solarpanels auf Dächern, E-Auto-Stellplätze vor Supermärkten, Bio-Siegel, CO₂-Ampeln, „Plant-based“-Sticker auf Produkten, nachhaltige Claims in Imagefilmen. Es sieht alles so herrlich modern aus. Solange die Komfortzone nicht angetastet wird, fühlt sich Zukunft erstaunlich entspannt an.

Echte Transformation hat mit diesem Bild aber ungefähr so viel zu tun wie ein Wahlplakat mit der Realität nach der Wahl. Sie ist selten schön, selten bequem, selten „instagrammable“. Echte Veränderung bedeutet, dass auch etwas aufhört, nicht nur, dass etwas Neues dazukommt. Sie kostet Geld, Zeit, Gewohnheiten, Bequemlichkeit, im Zweifel Wählerstimmen und Marktanteile. Das ist der Punkt, an dem es interessant wird. 

Und genau dort drehen wir ab. 

Wir erfinden neue Technologien, damit wir so leben können wie bisher – nur mit besserem Gewissen. Wir bauen „intelligente“ Systeme, die unseren Energieverbrauch optimieren sollen, statt ihn einfach radikal zu senken.

Veränderung wird verpackt wie ein Premium-Service: komfortabel, personalisiert und jederzeit kündbar. Die Welt, aber in bequem. Dabei liegt die eigentliche Zumutung nicht in der Technik, sondern in uns. Fortschritt ist ja kein externes Ereignis. Er ist ein Eingriff in das, was wir für normal halten. Und solange wir Normalität nicht antasten wollen, passiert natürlich nur das, was wir gerade sehen: Wir drehen an Symbolen, während die großen Linien sich kaum bewegen.

Der Punkt aber ist: Niemand wird uns den Verzicht abnehmen. Kein Start-up, kein Gesetz, keine KI, kein Green Deal, kein „Markt“. Die unangenehmen Entscheidungen bleiben Handarbeit. Solange wir sie weiterreichen, wird sich alles ändern, außer wir uns selbst. Nicht der Fortschritt ist das Problem. Die Zukunft kommt so oder so. Die Frage ist nur, ob wir uns bewegen oder sitzenbleiben und ihr anschließend vorwerfen, dass sie sich nicht nach uns richtet.

Was also bleibt? Wir können weiter so tun, als ließe sich die Welt per Abo retten, mit flexiblen Laufzeiten, Geld-zurück-Garantie und jederzeitiger Option auf „Später“. Oder wir kapieren, dass jeder ernst gemeinte Schritt nach vorn auch eine sichtbare Spur hinterlässt. Fortschritt scheitert nicht an Technik, nicht an Ideen und auch nicht an fehlenden Daten. 

Fortschritt stirbt an Bequemlichkeit. 

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