Wutwirtschaft
Jürgen Nerger – 12. August 2025Die profitable Spirale der Empörung. Und wie man ihr den Stecker zieht.
Vor ein paar Wochen brauchte es keine Naturkatastrophe, keinen Skandal in der Staatskanzlei, keinen Krieg, um die Schlagzeilen zu dominieren. Es reichte, dass ein Schauspieler bei einer Preisverleihung einen Witz machte, der nicht jedem gefiel. Innerhalb weniger Stunden war das Internet ein Tribunal. Talkshows luden eilig „Betroffene“ ein, Kolumnist:innen schrieben Leitartikel, Politiker:innen twitterten Solidaritätsbekundungen, Boykottaufrufe und Gegendarstellungen. Und irgendwo in einem Social-Media-Headquarter grinste sicherlich ein Algorithmus, weil seine Kurven in die Höhe schnellten. Das Muster ist alt, die Frequenz allerdings neu: Empörung in Echtzeit, rund um die Uhr, als Entertainmentpaket mit Kommentarspalte.
Empörung war mal eine nachvollziehbare Reaktion auf Unrecht. Heute ist sie ein Format. Früher dauerte es Tage, bis ein Skandal die Runde machte. Die Zeitung berichtete: Am Abend wurde diskutiert, am Wochenende beim Stammtisch ordentlich nachgelegt, mit Bier und Filter. Heute erledigt eine Push-Nachricht den Job in Sekunden, und innerhalb einer Stunde hat sich das kollektive Adrenalin bereits in tausenden Posts, Memes und Videos „materialisiert“. Aus Empörung ist ein Convenient-Produkt geworden, optimiert für Daumenbewegungen.

Die Klicks zählen
Und wie jedes Produkt hat auch dieses eine wachsende Industrie im Rücken. Redaktionen, die Klicks zählen. Plattformen, die Interaktionen vergolden. Parteien, die mit kalkulierter Empörung ihre Basis bei Laune halten. Aktivisten, Influencer, Podcaster – alle spielen mit. Die Spirale dreht sich nicht, weil die Welt objektiv skandalöser, sondern weil Empörung zur Währung geworden ist. Eine, die schneller kursiert als jede Kryptowährung und stabiler performt als so manche Staatsanleihe.
Die Mechanik dabei ist denkbar simpel: Empörung erzeugt Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit bringt Reichweite, Reichweite lässt sich verkaufen. Facebook, X, TikTok. Ihre Algorithmen sind nicht moralisch, sondern mathematisch. Was dich aufregt, hält dich länger auf der Plattform, und jede zusätzliche Sekunde bedeutet mehr Werbeinventar, also Anzeigenplätze und ähnliches. Medienhäuser haben die Logik fix übernommen: Headline zuerst, Fakten später. Hauptsache der Puls geht hoch. Politik wiederum hat gelernt, dass kein Wahlplakat so effektiv ist wie der Gegner, der öffentlich „entlarvt“ wird.
Beispiele
Beispiele dafür finden sich mittlerweile im Wochentakt: Ein Politiker stolpert über eine Formulierung, die aus dem Kontext gerissen zum Meme wird, und schon beginnt der 48-Stunden-Marathon aus Talkshow-Slots, Fact-Checking und Gegenempörung. Eine Marke bringt ein Werbemotiv heraus, das „in Teilen der Community“ als anstößig gilt, und binnen Stunden wird der Hashtag-Trend zum Marketing-Geschenk.
Eine Musikerin äußert sich politisch und findet sich am nächsten Morgen in einem medialen Spagat wieder, zwischen Shitstorm und Solidaritätswelle.So entsteht ganz von selbst eine merkwürdige Parallelwelt, in der es sich tatsächlich lohnen kann, empört zu sein. Nicht als Bürgerpflicht, sondern als Karriereweg. Wer dabei besonders geschickt und möglichst pointiert empört, wird eingeladen, zitiert, monetarisiert. Merchandising inklusive: Empörungsshirts, Patreon-Accounts, eigene bunte Kaffeebecher mit platten Slogans. Die moralische Entrüstung wird zum Abo-Modell.
Das Problem: Dauererregung stumpft ab. Wie alles was dauernd passiert. Wer im Minutentakt „empört“ ist, verliert das Sensorium für das wirklich Relevante. Anders gesagt:
Der Wald brennt, aber wir diskutieren die Wortwahl des Försters.
Alles ist gleich laut
Und weil alles gleich laut ist, hört man am Ende gar nichts mehr. Das ist kein Kollateralschaden, das ist der Betriebsmodus. Wichtige Themen gehen unter, weil Nebenschauplätze lukrativer sind.
Wer profitiert? Plattformen, Medien, Parteien, Einzelpersonen mit Reichweite. Wer zahlt? Wir. Mit unserer Aufmerksamkeit, unserer Geduld, unserer (aussterbenden) Fähigkeit, zuzuhören. Die Ökonomie der Empörung lebt davon, dass wir sofort reagieren, noch bevor wir überhaupt verstehen. Wer innehält, zerstört leider das Geschäftsmodell.
Und genau darin liegt dann wohl die subversivste Handlung unserer Zeit: nicht mitmachen. Keine sofortige Meinung. Keine Reaktion im Affekt. Die Zumutung, erst zu prüfen, dann zu urteilen. Für das System wäre das so radikal wie ein Generalstreik. Nur stiller.
Die wahre Revolution ist kein Aufstand. Es ist eher der kollektive Beschluss, einfach mal die Klappe zu halten.
Das hält keine Wutwirtschaft der Welt aus.