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Vibeshift – Die stille Kränkung

Jürgen Nerger – 24. Juni 2025

Die Welt verändert sich. Und du darfst zusehen.

Meistens merkt man es nicht sofort. Ein diffuses Gefühl taucht auf. Irgendwas scheint nicht mehr zu stimmen. Die Welt wirkt plötzlich anders. Die Menschen reden, kleiden, verhalten sich seltsam vertraut – nur man selbst steht geschockt daneben. Wie jemand, der zu einer Party kommt, auf der längst ein anderes Motto gilt – nur hat es ihm niemand gesagt. Dafür gibt es jetzt ein Wort: Vibeshift. Angeblich spüren wir kollektiv, wenn ein kulturelles Grundgefühl kippt. Wenn Mode, Musik, Moral und Märkte eine neue Richtung nehmen. Wenn die Regeln neu verhandelt werden, ohne dass jemand offiziell Bescheid sagt. Manchmal passiert das langsam, manchmal abrupt. Die Guten ins Licht, die Falschen in die Bedeutungslosigkeit. Früher nannte man das „Zeitgeist“. Was für ein tolles Wort. Gibt es übrigens seit 1769. Heute muss es cooler, härter, schneller klingen. Vibeshift – als würde die Frequenz einer ganzen Generation plötzlich wechseln, während wir noch auf dem alten Sender hängen. Die Frage ist nur: Wer bestimmt diesen Shift? Und was passiert mit denen, die ihn nicht mitmachen wollen – oder schlicht nicht mehr verstehen? Der wahre Vibeshift ist kein ästhetischer oder gesellschaftlicher Wandel. Sondern eine tief sitzende, fast unsichtbare Kränkung. Die leise Erkenntnis, dass Zugehörigkeit heute fragiler ist als je zuvor. 

Die stille Kränkung der Moderne 

Freud sprach einst von den „großen Kränkungen der Menschheit“. Die wahrlich bittere Lektion, dass wir nicht der Mittelpunkt des Universums sind (Kopernikus). Nicht die Krone der Schöpfung (Darwin). Ja, nicht einmal Herr im eigenen Haus (Freud selbst). Gleich drei monumentale Beleidigungen für das menschliche Ego. Die Kränkungen der Gegenwart sind leiser, subtiler, allgegenwärtiger. Sie kommen nicht immer in Form wissenschaftlicher Revolutionen, sondern häufig als ständiges, kaum spürbares Gefühl: Irgendetwas entgleitet mir. Ich bin nicht mehr sicher, ob ich dazugehöre. Ich kenne die Codes nicht mehr. Die Sprache, die Zeichen, den Humor. Die stille Kränkung beginnt oft harmlos: Man versteht einen Insider-Witz nicht. Man liest einen Begriff, alle tun so, als wär's selbstverständlich – nur man selbst googelt heimlich. Man hört neue Musik und fragt sich, seit wann das cool ist. Früher war das kein Problem. Jede Generation hatte ihre Trends, ihre Rebellionen, ihre Eigenheiten. Doch im digitalen Zeitalter wird das Nicht Verstehen zur sozialen Kränkung. 

Dauerbeleidigt im Netz der Möglichkeiten 

Noch nie war es so leicht, Teil von allem zu sein. Und noch nie fühlten sich so viele so ausgeschlossen. Social Media verspricht Teilhabe, Sichtbarkeit, Mitbestimmung. Aber die Realität sieht leider ganz anders aus: Ein falscher Post, ein unpassender Look, ein veralteter Begriff – und schon fühlt man sich wie aus der Zeit gefallen. Der kulturelle Shift verläuft dabei nicht linear, nicht demokratisch, nicht inklusiv. Er ist fragmentiert, hyperdynamisch, gnadenlos. Während die einen längst beim nächsten Hype angekommen sind, kämpfen andere noch mit den letzten und vorletzten Spielregeln. Zurück bleibt dann eben dieses diffuse Grundgefühl, das schwer zu greifen ist. Nennen wir es: Dauerbeleidigt. Nicht im klassischen Sinne, nicht laut, nicht dramatisch. Sondern unterschwellig. Eine permanente, leise Beleidigung der eigenen Relevanz. Man merkt, wie sich die Welt weiterdreht – ist aber zur Party nicht eingeladen. Die Trends wechseln, die Narrative auch. Und mit jeder neuen Welle, die man verpasst, wächst die Angst: War’s das jetzt? Bin ich abgehängt? Ist hier noch jemand? Die Folge: Überkompensation. Mehr Meinung, mehr Haltung, mehr Anti – nicht aus Überzeugung, sondern aus purer Unsicherheit. Wer laut dagegen ist, muss sich weniger fragen, ob er noch dazugehört. Je größer die Unsicherheit, desto schriller die Reaktion. Genug Raum für jede Menge Fanatismus: Die Verdopplung der Anstrengungen, nachdem man das Ziel aus den Augen verloren hat. 

Das Paradox des Wandels 

Die Zukunft gibt Gas. Aber das ungute Gefühl, hinterherzuhinken, bleibt treu an unserer Seite. Wir leben in einer Welt, die Wandel längst zur Norm erklärt hat. „Transformation“, „Disruption“, „Neustart“ – das sind die Mantras unserer Zeit. Marken, Unternehmen, Gesellschaften – alle wollen Teil des „Wandels“ sein. Oder ihn zumindest glaubhaft imitieren. Wer aber permanent den Wandel beschwört, erzeugt auch permanent das Gefühl des Verpassens. Während die einen schon die nächste Welle reiten, werden die anderen noch von der letzten überrollt. Der wahre Vibeshift ist deshalb kein Ereignis, keine Trendwende, kein definierbarer Moment. Er ist ein Zustand. Ein kulturelles Grundrauschen aus Unsicherheit, Übersprungshandlungen und stillem Gekränktsein. 

Muss man jeden Shift mitmachen? 

Die entscheidende Frage bleibt: Wie souverän gehen wir mit dem Wandel um? Es gibt zwei Reaktionen auf den Vibeshift. Die eine: Mitlaufen, anpassen, auf dem neuesten Stand bleiben – koste es, was es wolle. Die andere: Abgrenzen, ironisieren, herablächeln – um das Gefühl der Überforderung zu kaschieren. Beides ist verständlich. Beides hat seinen Preis. Wahrscheinlich braucht es eine dritte Haltung: Den Shift anerkennen, ohne sich ihm unterzuordnen. Die Codes verstehen wollen, ohne zwanghaft dazugehören zu müssen. Den Humor verlieren dürfen, ohne gleich dauerbeleidigt zu sein. Wandel ist unvermeidbar. Die Frage ist, ob wir ihn als Bedrohung empfinden – oder als Einladung, ruhig mal seine eigenen Spielregeln zu definieren. Der größte Vibeshift findet nämlich nicht da draußen statt. Sondern in uns selbst. Er beginnt in dem Moment, in dem wir akzeptieren, dass Zugehörigkeit kein Dauerabo ist. Dass der Anschluss an den Zeitgeist brüchig bleibt. Und dass das auch vollkommen okay ist.

Darüber hinaus ist es der einzige Weg, in einer dauerbeleidigten Gesellschaft nicht den Verstand zu verlieren. 

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