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Und wer räumt das jetzt weg?

Jürgen Nerger – 15. April 2025

Es gibt Wörter, die wissen zu viel über sich selbst. „Disruptiv“ ist so eins. Kaum ausgesprochen, rollt es wie eine Falltür durch den Raum: voller Erwartung, voller Wirkung, voller Selbstbewusstsein. Als hätte man nicht gesprochen, sondern einen Alarm ausgelöst.

Disruptiv ist kein Adjektiv mehr. Es ist ein Statement.

Ein kleiner rhetorischer Kurzschluss, der immer schon so klingt, als wäre etwas Großes passiert – selbst wenn es nur eine neue Farbe im Brand Manual ist. Man sagt „disruptiv“, wenn man nicht „neu“ sagen will. Wenn „anders“ zu wenig ist. Wenn man beweisen möchte, dass man nicht Teil des Problems ist – sondern Teil der Zukunft. Disruptiv ist die Vokabel für jene Veränderung, die nicht nur verbessert, sondern zerstört. Oder zerstören will. Oder so tut, als würde sie.

Der Begriff selbst stammt aus dem Silicon Valley. Clayton Christensen prägte ihn in den 90ern, um Unternehmen zu beschreiben, die Märkte nicht optimieren, sondern sprengen. Disruptive Innovation war das Gegenteil von inkrementellem Fortschritt: Nicht die neue Schraube, sondern das neue System. Aber was ist aus diesem Begriff geworden? Heute nennen sich Steuerberater disruptiv, Designbüros, die Linien brechen, aber nicht Regeln, Start-ups, deren größte Revolution darin besteht, den Checkout-Prozess auf zwei Klicks zu verkürzen.

Man hat das Rad nicht neu erfunden – man hat es neu lackiert.

Und nennt es Disruption. Das Problem ist nicht der Begriff. Es ist sein Verlust an Schmerz. Denn echte Disruption tut weh. Sie macht etwas kaputt, das jemandem gehört. Sie bringt Systeme zum Einsturz, entzieht Sicherheit, schafft Unordnung. Sie ist Risiko – keine Pose. Wenn sie gelingt, wird man bewundert. Wenn sie scheitert, wird man gefeuert. Das ist der Preis. Und den will kaum jemand zahlen. Also beginnt das Spiel der Simulation. Wir inszenieren Disruption – mit Sprache, mit Slides, mit Schwarz-Weiß-Fotos und großem Purpose-Faktor. Aber das, was wirklich erschüttert, wird umschifft: Machtverhältnisse, Besitzverhältnisse, Denkverhältnisse. Wir verändern die Oberfläche. Nicht die Struktur.Was heute disruptiv genannt wird, ist oft das Gegenteil davon: eine neue Verpackung für das Immergleiche. Ein schnellerer Weg zur Konformität. Ein Aufmerksamkeits-Stunt mit eingebautem Sicherheitsnetz.

Echte Disruption braucht das, was wir am meisten vermeiden: Kontrollverlust.

Und den kann man nicht in ein Markenhandbuch schreiben. Was also wäre heute wirklich disruptiv? Eine Marke, die bewusst wächst – nicht skaliert. Ein Produkt, das sich absichtlich entzieht. Ein Unternehmen, das aufhört, sich ständig selbst zu erfinden – und stattdessen einfach gut bleibt. Eine Kommunikation, die nicht mehr mitmacht. Nicht bei Trends, nicht bei Debatten, nicht bei der täglichen Empörungsökonomie. Disruptiv wäre heute:

Sich selbst ernst nehmen – und die Begriffe, die man benutzt.

Vielleicht ist das eigentlich Disruptive, das: Keinen Hype zu erzeugen. Sondern Relevanz. Nicht zu schreien, sondern etwas zu sagen. Nicht zu performen, sondern zu verändern. Und vielleicht sollten wir, bevor wir das nächste Mal „disruptiv“ sagen, kurz innehalten. Und fragen:

Wen genau macht das hier eigentlich nervös?


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