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Sinn und Sühne

Jürgen Nerger – 22. April 2025

Es begann harmlos. Mit einem Satz auf einer Website. Dann auf einem Milchkarton. Schließlich auf jeder Bühne, jedem Pitchdeck, jedem LinkedIn-Profil. Purpose wurde nicht mehr hinterfragt – er wurde erwartet. Ein Fixpunkt der Gegenwart. Der letzte Satz jeder Keynote. Das Kleingedruckte jeder Markenwelt.

„Wir glauben an die Kraft der Verbindung.“„Wir gestalten Zukunft mit Sinn.“„Wir machen die Welt ein bisschen besser.“

Purpose

Was einst als subversive Idee begann, ist heute eine akustische Tapete aus wohlklingenden Absichten. Purpose hat seinen Ursprung als Systemkritik verloren und seine neue Heimat im Kommunikationsbaukasten gefunden.

Dabei war der Gedanke einmal radikal. Das Unternehmen nicht nur verkaufen, sondern Verantwortung übernehmen. Dass sie nicht nur optimieren, sondern verzichten. Dass sie sich nicht nur positionieren, sondern auch verlieren können – an Umsatz, Tempo, Einfluss.

Der Philosoph Michael Sandel nannte das einst „Moral ohne Kostenpunkt“ – und genau das ist heute das Problem. 

Der Markt liebt den Purpose, solange er nichts kostet. 

Solange man damit glänzen, nicht verlieren kann. Purpose ist in seiner populären Form keine Zumutung mehr, sondern eine Verpackung. Ein ästhetisches Label, das sich wunderbar in Kampagnen integrieren lässt – klimaneutral gedruckt, mit recyceltem Claim und abrufbarer Haltung auf Knopfdruck.

In Wahrheit zeigt sich echter Purpose dort, wo es wehtut. Dort, wo man nicht profitiert, sondern sich einschränkt. Wo etwas weniger wird, nicht mehr.

Doch genau dieser Schmerz wurde ausgelagert. Purpose ist heute oft ein Versprechen ohne Konsequenz. Man sagt etwas Gutes, um nichts Schlechtes tun zu müssen. Man bekennt sich öffentlich, damit sich intern nichts ändert. Man ruft Haltung aus – und hofft, dass niemand nach den Taten fragt.

Was übersehen wird: Purpose ist kein Startpunkt. Er ist das Resultat von Entscheidungen. Kein Claim, sondern eine Konsequenz. Er entsteht nicht in Meetings oder Manifesten, sondern im Handeln. In Momenten, in denen jemand sagt: Wir verzichten. Wir brechen mit Gewohnheiten. Wir sagen Nein, wo ein Ja einfacher wäre.

Solche Entscheidungen sind selten sichtbar. Sie funktionieren schlecht auf Award-Bühnen oder in Präsentationen. Sie widersprechen der Logik der Kommunikation, weil sie nicht gefallen wollen. 

Echte Haltung ist selten laut. Meist ist sie unbequem. 

Und genau das macht sie so schwer vermittelbar – in einer Zeit, in der alles sofort teilbar, verständlich und inszenierbar sein soll.

Vielleicht liegt darin der stille Skandal: Dass aus dem Anspruch, besser zu handeln, ein Markt wurde. Und dass aus der Suche nach Sinn eine Strategie wurde. Der Soziologe Hartmut Rosa spricht vom „Resonanzversprechen“ – dem Wunsch, in Beziehung zu treten, etwas zu spüren, berührt zu werden. Doch in vielen Fällen wirkt es heute eher wie das Gegenteil: ein Resonanzvermeiden.

Purpose soll nicht mehr berühren, sondern beruhigen. Nicht aufrütteln, sondern absichern. Nicht verändern, sondern bekräftigen, was ohnehin schon bequem war.

Und so stellt sich nicht mehr die Frage: „Was ist unser Purpose?“ Sondern die viel ehrlichere, viel gefährlichere:

Was sind wir bereit, dafür zu verlieren?

Denn Purpose ist kein Add-on. Kein Extra. Kein Moodboard. Purpose ist ein Tauschgeschäft.

Und wer es ernst meint, zahlt.


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