Sie haben das Ziel verfehlt.
Jürgen Nerger – 03. Juni 2025Was passiert, wenn Kommunikation Menschen erreichen will – aber nur Cluster trifft.
Man hat auch mir erklärt, ich sei Zielgruppe.
Zwischen 29 und 55. Kulturinteressiert, progressiv, urban. Digitale Affinität, aber analoges Vertrauen. Markenbewusst, aber bitte mit Understatement. Bereit, für Qualität zu zahlen – aber allergisch auf Angeberei. So oder so ähnlich lese ich das gelegentlich über mich. In Präsentationen, auf Websites, in Werbestrategien. Und denke: Klingt irgendwie nach mir. Und gleichzeitig: Überhaupt nicht. Denn das, was ich denke, fühle oder tue, ist selten das Ergebnis einer klaren Linie. Es ist ein Mix aus Momenten, Widersprüchen, Launen. Mal durchdacht, mal impulsiv. Mal voller Haltung, mal völlig daneben.

Ich passe in keine Gruppe. Und will es auch gar nicht.
Nicht aus Prinzip – sondern aus Erfahrung. Denn jedes Mal, wenn man mich einordnet, fehlt etwas: die Bewegung. Das Dazwischen. Das, was eben nicht messbar ist. Man hat lange genug versucht, Menschen in Gruppen zu sortieren. Nach Alter, Einkommen, Bildungsgrad, Geschlecht. Später kamen Milieus, dann Personas. Heute sind es Empathy Maps und Archetypen, oft verziert mit Spotify-Playlists und Moodboards. Aber das Prinzip blieb immer gleich: Vereinfachung. Man brauchte Ordnung, um Produkte zu planen, Botschaften zu formen, Kampagnen zu steuern. Und ja, das hatte seine Zeit. Die Werbung der 90er konnte sich leisten, in Lebensphasen zu denken: Junge Männer fuhren GTI. Junge Frauen trugen Esprit. Familien kauften Frosta. Alte Menschen lutschten Hustenbonbons. Das war nicht falsch. Nur übersichtlich.
Diese Welt gibt es nicht mehr.
Was heute „Zielgruppe“ genannt wird, ist oft nur noch ein intellektuelles Pflaster auf die Wunde mangelnder Nähe. Denn die Realität ist: Die 26-jährige Veganerin, die in ihrem Van lebt, teilt kaum mehr als das Geburtsjahr mit dem 26-jährigen Investmentbanker, der jede Woche eine neue Uhr trägt. Beide sind GenZ. Aber was genau soll das heißen? Sie teilen keine Werte, keine Mediennutzung, keine Kaufmotive. Nur die Altersangabe in der Mediaplanung. Man kann die Welt nicht mehr nach Jahrgängen sortieren. Nicht nach Wohnorten und auch nicht nach Interessen. Denn Interessen sind keine stabilen Kategorien mehr – sie sind flüchtig, situativ, manchmal widersprüchlich. Und doch halten sich die alten Konzepte. Weil sie Planungssicherheit versprechen. Weil sie in Tabellen funktionieren. Weil sie dem vagen Bauchgefühl eine pseudowissenschaftliche Fassade geben. Aber wer heute wirklich Menschen erreichen will, muss anders denken. Muss nicht fragen: Wem erzählen wir das? Sondern: Was löst es in jemandem aus?

Es geht nicht mehr um Zielgruppen. Es geht um Zielzustände.
Menschen entscheiden nicht, weil sie zu einer Gruppe gehören. Sie entscheiden, weil in ihnen etwas trifft: Ein Wunsch, ein Zweifel, eine Überforderung. Ein Gefühl, verstanden worden zu sein. Oder auch nur: gesehen. Ein Beispiel: Eine gute Kampagne für ein Fahrrad erreicht nicht „urbane Menschen zwischen 20 und 40“. Sie erreicht Menschen, die das Bedürfnis haben, dem öffentlichen Nahverkehr zu entkommen. Menschen, die sich frei fühlen wollen, wendig, schnell. Menschen, die keine Lust mehr haben, zu warten. Diese Menschen können 19 sein oder 63. Sie können in Hamburg wohnen oder in Hof. Was sie verbindet, ist kein demografisches Merkmal. Sondern ein Zustand. Wer gestalten, wer kommunizieren, wer Marken bauen will, braucht nicht noch mehr Cluster. Er braucht Gefühl für Timing. Für Ton. Für Temperatur. Man muss spüren, was die Menschen bewegt – nicht, was sie sind. Das klingt ungenau. Dabei ist es präziser, als jedes Targeting. Denn am Ende geht es nicht darum, Menschen richtig zu sortieren. Es geht darum, sie nicht zu verlieren. Weil sie sonst einfach abschalten. Oder schlimmer: sich gelangweilt abwenden. Nicht, weil sie nichts verstehen – sondern weil sie spüren, dass es nicht für sie gemacht ist. Und das bedeutet für den Absender: