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Out of Context 

Jürgen Nerger – 20. Mai 2025

Warum uns der Kontext abhandenkommt – und mit ihm die Wirklichkeit.

Es beginnt mit einem Satz. Einem Ausschnitt. Einer Szene. Etwas, das wir gesehen, gehört, geteilt haben – ohne aber zu wissen, woher es kommt. Es wirkt. Es triggert. Es polarisiert. Und genau deshalb geht es viral. Der Kontext ist abwesend – und damit auch die Verantwortung. Wir leben in einer Welt, in der Wirkung zählt, nicht Bedeutung. In der Inhalte nicht mehr gelesen, sondern gespürt werden. In der ein Zusammenhang zwischen Anfang und Ende nur noch stört. Die Timeline hat den Zeitstrahl ersetzt. Der Feed ist kein Fluss, sondern ein Stromschlag. 

Schnitt. Punkt. Weiter. 

Die Aufmerksamkeit ist fragmentiert, also wurde alles andere angepasst. Nachrichten, Gefühle, Gespräche. Alles wird portioniert, gerendert, geloopt. Der neue Sinn entsteht im Ausschnitt – nicht im Ganzen. „Out of context“ ist längst kein Unfall mehr, sondern Methode. Plattformen funktionieren nicht über Zusammenhang, sondern über Reiz. Der Algorithmus filtert, was anschlussfähig ist – nicht, was erklärt. Was bleibt, ist kulturelles Konzentrat: geschärft, gekürzt, gedreht. Je dichter die Schlagzeile, desto dünner die Substanz. Kontextlosigkeit ist kein Nebeneffekt. Sie ist das Betriebssystem. 

Kontextlos – und damit wehrlos. 

Was früher als Einordnung galt, wird heute als Schwäche gewertet. Erklärungen brauchen Zeit. Zeit braucht Raum. Und Raum ist im Internet nicht vorgesehen. Die Öffentlichkeit hat sich in eine Sammlung simultaner Monologe verwandelt – alle sprechen, keiner hört zu. Ohne Kontext gibt es aber keine Gesprächsebene, sondern nur Reaktionen. Ein Zitat ohne Quelle, ein Clip ohne Ursprung, ein Satz ohne Vorher und Nachher – das alles ist nicht nur beliebig, es ist sogar gefährlich. Denn wer den Rahmen kontrolliert, kontrolliert auch die Realität. 

Das Gedächtnis zersplittert mit. 

Wir erinnern keine Geschichten mehr, sondern nur noch Szenen. Keine Argumente, sondern nur Auslöser. Kein Davor und Danach – nur das Jetzt. Erinnerung verliert ihre Chronologie. Der Mensch wird zum Highlight-Reel seiner selbst. Erzählen war einmal der rote Faden, mit dem wir uns selbst zusammennähen konnten. Jetzt sind wir nur noch Fetzen. Was nicht mehr zusammenhängt, lässt sich auch nicht mehr bewerten. Und was nicht mehr bewertet wird, verliert an Bedeutung – egal, wie laut es schreit. 

Der Inhalt ist nichts ohne seinen Rahmen. 

Ein Satz kann alles bedeuten – oder gar nichts. Ein Bild kann dokumentieren – oder täuschen. Ein Lächeln kann ehrlich sein – oder kalkuliert. Ohne Kontext sind diese Unterschiede unsichtbar. Und damit irrelevant. Was bleibt, ist eine neue Art von Wahrheit: die, die performt. Der Kontext, der früher als Bedingung von Sinn galt, ist heute ein entfernbarer Layer – ein Skin, der sich wechseln lässt. So wird die Welt zur Tapete: glatt, wechselbar und ohne jede Tiefe. 

Die Ethik der Tiefe. 

Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät. Vielleicht liegt in der Kontextpflege kein nostalgischer Rückgriff – sondern ein Akt des Widerstands. Gegen das Schnelle. Gegen das Glatte. Gegen das, was sich sofort erschließt. Ein Zitat mit Quelle. Ein Gedanke mit Herkunft. Ein Text mit Verlauf. All das sind keine Relikte – sie sind Gegenmittel. Kontext bedeutet: aushalten, dass es kompliziert ist. Nicht gleich urteilen. Nicht alles auf eine Pointe reduzieren. Oder wie Susan Sontag sagte: „Interpretation is the revenge of the intellect upon art.“ 

Vielleicht ist der Zusammenhang heute sogar der radikalste Akt von Intelligenz. 


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