Lauter Schubladen
Jürgen Nerger – März 2025Die Welt wird immer einfacher. Leider nicht im positiven Sinne, sondern im Eindimensionalen. Diskussionen, Berichterstattung, Kommentare – alles ist einfältig geworden. Differenzierung? Meinungsvielfalt? Keine Zeit. Eine Schublade ist eben viel einfacher zu befüllen als das offene Regal, und ich kann jeden Unsinn darin verschwinden lassen. Es gibt aber nicht nur links und rechts, oben und unten, vorwärts und rückwärts. Es gibt auch ganz viel daneben, dazwischen, darüber und darunter.

Nehmen wir Künstliche Intelligenz.
Die einen preisen sie als den ultimativen Heilsbringer, die anderen malen dystopische Untergangsszenarien, in denen wir bald alle arbeitslos unter Brücken leben, während Roboter unsere Lebenswerke zerstören. Die Wahrheit? Sie liegt – wie so oft – irgendwo dazwischen. KI ist nicht die Apokalypse und nicht der Messias. Sie ist ein Werkzeug. Und wie bei jedem Werkzeug kommt es darauf an, wer es benutzt. Wer einen Hammer in der Hand hält, kann Nägel einschlagen oder sich auf den Daumen hauen. Die meisten schaffen Letzteres. Richtig eingesetzt, eröffnet KI Perspektiven, die vorher niemand für möglich hielt. Sie wittert sogar dort noch Chancen, wohin bisher niemand schauen wollte – in jeder noch so kleinen Nische. Was gerade stattfindet, ist vielmehr Verschiebung und nicht Vernichtung. Man muss verstehen, die KI und damit ganz neue Möglichkeiten richtig in einen Prozess einzubinden und ihr nicht das alleinige Denken und Handeln überlassen. Das sollte man schon noch selbst tun und denken ist, man mag es glauben oder nicht, in diesen Tagen gefragter denn je. Die KI ist also gar nicht mal so dumm und es liegt in der Verantwortung jedes Einzelnen, selbst nicht dümmer als jedes digitale Tool zu werden.
Im Panikraum
KI ist mehr als ChatGPT, Midjourney oder Perplexity. Während sich Designer und Texter gegenseitig kollektiv in Panik versetzen, weil ein paar Hobby-User bunte Bildchen und mittelmäßige Werbetexte generieren, passiert im Hintergrund etwas viel Wichtigeres. KI organisiert bereits jetzt Buchhaltung, Lieferketten, IT-Sicherheit, komplette Arbeitsprozesse – Dinge, die niemand sexy findet, die aber Milliarden bewegen.
Gleichzeitig verändert sich unsere Art zu lesen, zu sehen, zu hören. Eine Entwicklung, die manche verzweifeln lässt. Andere dagegen erkennen: Wir stehen am Anfang eines Prozesses, dessen Ausgang noch völlig unklar ist. Vieles wird bleiben, manches verschwinden, anderes kommt völlig unerwartet. Willkommen im Leben.
Im Datenparadies
Neben dieser rationalen, datengetriebenen, streng digitalen Sicht auf die scheinbar alles beherrschenden Dinge gerät allerdings die emotionale und zwischenmenschliche Seite zunehmend in Vergessenheit und das schafft Probleme. Vor allem mentale. Wirklich erfolgreich und für alle hilfreich kann nur das sein, was emotional und rational auf ideale Weise miteinander verbindet. Das war schon immer so.
Heute bleiben die Emotionen, die menschlichen Beziehungen zunehmend auf der Strecke und es wird mehr und mehr versucht, das Leben, den Alltag und die Gesellschaft rational und digital zu organisieren. Alle, die emotional eher dürftig ausgestattet sind, wähnen sich dabei im Paradies, für jene, die von ihren Emotionen leben, wird es schnell zur Hölle.
Kurz gesagt: Wir müssen dringend nachsteuern. Denn wer glaubt, dass sich alles digital, datengetrieben und mathematisch lösen lässt, kann ja mal versuchen, ein Kind mit einer Excel-Tabelle zu erziehen oder eine Beziehung mit einem KPI-Dashboard zu retten.
In der Werbehölle
Und dann wäre da noch die schöne neue Werbewelt. Wer glaubt, dass KI die Qualität von Werbung automatisch verbessert (oder verschlechtert), war noch nie auf YouTube oder Instagram. Schon seit Jahrzehnten gibt es Spots, die so grottenschlecht sind, dass selbst ein erfahrener Masochist daran verzweifelt. Heute beherrschen die digitalen Medien und Formate zwar die Szene, an der Qualität hat sich nichts geändert. Die ist nicht besser, aber auch nicht schlechter. Und das wird auch die KI nicht ändern, denn für diesen ganzen Unsinn haben sich Menschen bewusst entschieden. In zumeist absurden Prozessen.
Hier lohnt sich ein detaillierterer Blick auf ein konkretes Beispiel, um die Zukunft besser einordnen zu können: Wenn mich in einer Werbung für die Krankenkasse das KI-generierte Gesicht eines jungen Menschen mit strahlend weißen Zähnen anschaut, um mir die Zahnzusatzversicherung schmackhaft zu machen, dann berührt mich das emotional mittelmäßig bis gar nicht. Eine „Lovebrand“ wird die AOK nicht mehr werden und deshalb kann sich das Unternehmen die Mühe (und das Geld für ein aufwändiges Shooting) auf dem Weg dorthin auch gerne sparen. Da geht es um Performance, um Tarife und die Aufgabe, möglichst viele Policen unters Volk zu bringen. Die Strategie folgt einer Aufgabe, und wenn ich Krankenversicherungen verkaufe, kann ich entweder mit schönen gesunden Menschen (mit weißen Zähnen) und einem langen erfüllten Leben werben oder mit dem Gegenteil. Mit zum Beispiel schockierenden Bildern der Realität und dem, was passiert, wenn ich mich nicht mehr bewege, den ganzen Tag bucklig auf mein Handy starre und mich nur von Fastfood ernähre. Dann sehe ich einen blassen, stark übergewichtigen Menschen mit eingefallenen Augen und faulen Zähnen. Ich kaufe also die Versicherung, weil ich entweder NICHT so sein will wie diese Person in der Werbung. Oder weil ich eben GENAUSO sein will wie die Person. Die schockierenden Bilder sind natürlich nicht so schön anzuschauen, aber mindestens so wirksam. (Auch an dieser Stelle rate ich grundsätzlich zu mehr Mut).
Wer Werbung machen will, die funktioniert, muss nur eine Frage beantworten: Will ich Emotionen oder will ich Effizienz?
In der Identitätskrise
Anderes, derzeit viel diskutiertes Thema: Automobilwerbung. Dass diese früher mal so dufte war und heute sterbenslangweilig und austauschbar, liegt in erster Linie daran, dass auch die Produkte austauschbar und langweilig geworden sind. Darüber hinaus hat sich die Bedeutung des Autos massiv verändert. Es ist längst nicht mehr das Symbol von Freiheit und Abenteuer oder für einen erreichten Status (außer bei spät pubertierenden Fußballstars vielleicht), sondern überwiegend ein Mittel zum Zweck, um von A nach B zu kommen. Für viele, besonders in Großstädten, bereits vollständig verzichtbar. Was wir deshalb seit ein paar Jahren in der Automobilwerbung beobachten, ist die krampfhafte Suche nach Identität und die Angst vor der Bedeutungslosigkeit. Und genau das trifft derzeit auf viele andere Branchen, Produkte, Märkte und Unternehmen zu.
In der Zukunft
Auf die zukünftigen Ergebnisse jedenfalls kann man durchaus gespannt sein, denn gerade die Suche nach Identität, nach der eigenen Positionierung macht ja die Arbeit in der Kommunikationsbranche derzeit so spannend. Wann in der Vergangenheit waren Märkte so in Bewegung, dass sich alles um uns herum neu sortieren und sich jeder neu aufstellen musste? Im Vorteil dabei ist, wer die Vergangenheit noch genau vor Augen und erlebt hat und neugierig, lernwillig und motiviert genug ist, die Zukunft mitzugestalten.
Die Arbeit in der Kommunikationsbranche mag heute weniger „romantisch“ oder „hip“ sein (wobei man sich fragen darf, für wen Werbung das jemals war, außer für die Mitarbeitenden in Agenturen selbst), sie ist heute offensichtlich nur vielmehr das, was sie ohnehin schon immer war: Die Verbreitung von Informationen in der Öffentlichkeit oder an ausgesuchte Zielgruppen, mit dem Zweck, Produkte und Dienstleistungen bekannt zu machen. Nicht mehr und nicht weniger. Und das kann man auf intelligente und unterhaltsame Weise lösen oder eben auf die denkbar blödeste Tour.
Alles wie im richtigen Leben. Unterm Strich bleibt nur eine Gewissheit: