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Kulturkrampf 

Jürgen Nerger – 26. August 2025

Wenn Politik das streicht, was uns am schnellsten heilt.

Einsamkeit gilt inzwischen als Volkskrankheit. Depressionen, Burnout, digitale Erschöpfung, die Diagnosen unserer Zeit lesen sich wie ein Beipackzettel für eine Gesellschaft, die immer online ist und trotzdem keine Resonanz mehr findet. Wir reden dauernd über Gesundheit, Fitnessuhren, Ernährungstrends und die nächste Wunderpille. Aber kaum jemand spricht über das Heilmittel, das wir seit Jahrtausenden haben: Kultur.

Und damit meine ich nicht nur die Oper, in der sich pünktlich um 19.30 Uhr der Vorhang für ein Nischenpublikum hebt. Kultur ist alles, was Menschen miteinander teilen, erfinden, aufführen, feiern, diskutieren, malen, singen, posten, tanzen. Sie ist der Song im Autoradio, der uns plötzlich wieder zappeln lässt. Sie ist die Serie, die uns in einer schlaflosen Nacht tröstet. Die Lesung im Hinterzimmer einer Kneipe. Das Festival, das Fremde zu Freunden macht. Kultur ist kein Extra. Sie ist der Stoff, aus dem die ganze Gesellschaft besteht.

Trotzdem behandeln wir sie wie Dekoration. Etwas, das man sich leisten kann, wenn alles andere erledigt ist. Etwas, das zuerst gekürzt wird, sobald der Rotstift kreist. Bibliotheken schließen, Musikunterricht wird gestrichen, Theater kämpfen ums Überleben. Kaum eine andere gesellschaftliche Leistung wird so oft als verzichtbar betrachtet und gleichzeitig so dringend gebraucht.

Sie ist Grundversorgung. Sie stillt Bedürfnisse, die man nicht in Kalorien oder Euro misst: Sinn, Orientierung, Gemeinschaft. Wer schon einmal im Stadion „You’ll never walk alone“ mitgesungen hat, weiß, dass sich Zugehörigkeit nicht berechnen lässt. Wer mit 100 Fremden Pogo tanzt, fühlt, was Verbundenheit bedeutet.

Kultur ist nicht nur Balsam für die Seele, sondern auch harte Ökonomie. Die Kultur- und Kreativwirtschaft beschäftigt mehr Menschen als die Automobilindustrie. Sie erwirtschaftet Milliarden, exportiert Ideen, Marken, Bilder, Sounds. Aber im Gegensatz zu jeder anderen Industrie schafft sie nicht nur Produkte, sondern Identität. 

Autos bewegen uns von A nach B. Kultur bewegt uns. Punkt. 

Und das war schon immer so. Hochkulturen definieren wir nicht über ihr Bruttoinlandsprodukt, sondern über ihre Bauwerke, ihre Literatur, ihre Musik. Die Renaissance war kein Konjunkturprogramm, sondern eine Explosion von Kunst und Denken. Die 68er veränderten die Gesellschaft nicht durch Gesetze, sondern durch Lieder, Filme und Theaterstücke. Und wer an Berlin denkt, denkt an Clubs, Galerien und Festivals, nicht an Gewerbesteuer. Manchmal genügt eine Idee, ein Beat, ein Ort, um die Welt zu verändern: Hip-Hop begann in den Straßen der Bronx, weil Kids keine Instrumente hatten und Plattenspieler zweckentfremdeten. Aus diesem Mangel heraus entstand eine der mächtigsten kulturellen Bewegungen der Welt. Sie veränderte Sprache, Mode, Politik, Identität und wurde zum Sprachrohr einer ganzen Generation. Keine Partei, kein Unternehmen hätte das jemals leisten können. Kultur aber konnte es.

Wenn Gesellschaften sich neu erfinden mussten, war Kultur der Motor.

Politik und Technologie kamen später. Heute ist sie das stärkste Antidepressivum, das wir haben. Sie holt uns raus aus Blasen und Echokammern, zwingt uns, uns mit anderen auseinanderzusetzen, schenkt uns Geschichten, die größer sind als unsere Timeline. Sie kann trösten, aufrütteln, versöhnen, inspirieren. Sie heilt. Und zwar nicht, indem sie Symptome überdeckt wie die nächste Tablette, sondern indem sie uns lebendig fühlen und reflektieren lässt. Wissenschaftlich ist das längst belegt: Wer singt, lebt gesünder. Wer tanzt, baut Stress ab. Wer ins Theater geht, trainiert Empathie. Wer liest, lebt länger. Aber viel wichtiger ist: Wer Kultur erlebt, lebt bewusster. Und trotzdem passiert immer wieder das Gleiche: Wenn es ernst wird, wird Kultur gestrichen. So, als könne man Depression mit Steuersenkung behandeln oder Verzweiflung mit Rüstungsetats kurieren. Gerade dann, wenn wir Kultur am meisten brauchen, behandeln wir sie als Luxus. Wir brauchen endlich eine andere Perspektive. Kultur ist nicht Begleitmusik der Gesellschaft. Sie ist die Partitur. Sie macht uns widerstandsfähig gegen Sinnverlust, sie verbindet Generationen, sie gibt uns Bilder für das Unaussprechliche. 

Sie ist nicht die Kirsche auf dem Kuchen, sie ist das Mehl! 

Die eigentliche Gesundheitsreform beginnt deshalb nicht beim Arzt oder in Kliniken, sondern in Ateliers. Nicht in Pharmakonzernen, sondern in Clubs. Nicht auf Parteitagen, sondern in Proberäumen. Kultur ist das Heilmittel, das wir längst besitzen. Wir müssen nur endlich aufhören, es als lustige Freizeitbeschäftigung zu behandeln.

Lasst uns also ins Kino gehen, auf Konzerte, auf Festivals, in Museen, ins Theater, in Lesungen, in Clubs. Und Kultur nicht als Luxus betrachten, sondern als das, was sie ist: die einzige Kraft, die uns wirklich heilt. Am Ende bleibt nicht, was wir geleistet, gezählt oder erledigt haben.

Am Ende bleibt, was uns verwandelt hat: der eine Song, der uns den verregneten Sommer gerettet hat. Das Buch, über das wir stundenlang hitzig diskutiert haben. Oder das Bild, in das wir uns verliebt haben und das seitdem über dem Bett hängt. Und über das wir uns jeden Morgen aufs Neue freuen. 

Eine Gesellschaft ohne Kultur ist nicht krank. Sie ist tot. 

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