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Früher war alles besser. Außer die Zukunft. 

Jürgen Nerger – 16. September 2025

Warum Retro im Design rettend sein kann – und in der Gesellschaft gefährlich.

Retro ist überall. Und das ist nicht mal schlimm. Ganz im Gegenteil: Es kann schön sein, wenn eine alte Schreibmaschine wieder klackert oder ein Plattenspieler im Wohnzimmer steht. Nostalgie gibt Dingen eine Wärme zurück, die wir im Dauerrauschen der Gegenwart immer öfter vermissen. Sie ist ein willkommenes Gegengewicht zu algorithmischer Kälte, ein Stück echte Menschlichkeit in einer Welt, die dauernd ihr Outfit ändert und kaum Zeit für echte Nähe lässt. Doch so verführerisch dieses Gefühl ist: Nostalgie ist kein Gesellschaftsmodell. Sie kann Design retten, aber keine Demokratie. Sie darf sich als Look inszenieren, nicht als Lebensform. Denn sobald das Gestern zu einer politischen Idee wird, kippt der Charme leider ins Brandgefährliche. 

Die gute Seite der Nostalgie 

In Kunst und Gestaltung funktioniert Nostalgie wie ein Rohstoff. Sie bietet Anknüpfungspunkte, schafft Vertrautheit und macht Komplexes einfach und lesbar. Und sie ist längst nicht mehr auf Vinylplatten oder Möbelklassiker beschränkt. Man sieht es überall: Retro-Kampagnen von Airlines, die plötzlich wieder in den Farben der Siebziger fliegen. Cafés, die mit Vintage-Möbeln ausgestattet sind, servieren Filterkaffee im gediegenen Porzellanservice. Selbst eine Modekollektion, die alte Schnitte zitiert, kann eine kluge Verhandlung zwischen Vergangenheit und Gegenwart sein. All das funktioniert, weil es ein Bedürfnis erfüllt: die Sehnsucht nach Überschaubarkeit und einem Rest von Kontrolle. Nostalgie beruhigt, ohne zu blockieren. Vor allem aber gibt sie uns Körperlichkeit zurück: das Gewicht einer Glasflasche, der Griff an eine Hotelzimmertür mit Schlüssel statt Chipkarte, die handgeschriebene Karte im Restaurant. Dinge, die uns spüren lassen, dass wir nicht nur User sind, sondern immer noch Menschen. 

Die gefährliche Seite der Nostalgie 

Problematisch wird es, wenn Nostalgie nicht nur Räume, Objekte oder Services besetzt, sondern Köpfe und Machtstrukturen. Sobald Gesellschaft beginnt, sich wie ein Wohnzimmer einzurichten, das „früher“ gemütlicher war, beginnt auch schon der Rückschritt. Plötzlich klingt es, als wäre Gleichberechtigung ein modisches Accessoire und Diversität nur eine kurze Phase. Patriarchale Muster tauchen wieder auf, autoritäre Rhetorik feiert ein Comeback, als sei auch das alles nur eine harmlose Retro-Welle. Aber eine Gesellschaft ist kein Flohmarkt. Was im Design funktioniert – das kuratierte Nebeneinander von Alt und Neu – wird im Politischen zum Stillstand. „Früher war alles einfacher“ ist kein Argument, sondern eine Ausrede. Einfacher war es vielleicht. Solange man männlich, weiß und Chef war. Für viele bedeutete das „Früher“ weniger Rechte, weniger Sichtbarkeit, weniger Chancen. Oder um es zuzuspitzen: Ein Retro-Design im Supermarktregal macht Spaß. Ein Retro-Gesetz im Parlament weniger. 

Das richtige Maß 

Die Sehnsucht nach Retro ist also nicht falsch. Sie ist menschlich. Wer mitten im Dauer-Update der digitalen Welt lebt, will manchmal ein Gegenstück: etwas, das bleibt. Aber der entscheidende Punkt ist das Maß. In der Gestaltung darf Nostalgie ein Mittel sein. In der Gesellschaft darf sie kein Ziel sein. Wir können Schallplatten kaufen, Polaroids knipsen, Milchbars besuchen. Aber wir dürfen nicht unsere Zukunft so organisieren, als gäbe es nur Schwarz-Weiß-Fernsehen. Wir können Tetris auf dem iPhone spielen. Aber wir sollten nicht versuchen, die Gesellschaft wie Tetris zu sortieren.

Ich liebe den Moment, wenn eine alte Polaroidkamera klickt und ein Bild langsam im Licht auftaucht. Aber ich möchte nicht, dass die Welt, in der dieses Bild gemacht wird, denselben Regeln folgt wie damals. Ich will den Charme der Dinge, nicht den Rückschritt der Strukturen.

Retro darf in meinem Regal stehen, aber nicht im Gesetzbuch.

Nostalgie ist wichtig. Sie erinnert uns daran, dass Zukunft nicht immer nur Geschwindigkeit heißt. Sie schützt uns vor dem Gefühl, im Strom der Updates unterzugehen, und die gute Nachricht dabei ist: Wir können beides haben. Die Glasflasche im Kühlschrank und die offene Gesellschaft, die uns weiterträgt. Nur eines dürfen wir nicht: das Gestern zur Regierung machen. Nostalgie braucht Grenzen. Sonst verwandelt sie sich in Ideologie. Anders gesagt: 

Wer die Zukunft im Vintage-Look bestellt, darf sich nicht wundern, wenn sie nach Mottenkugeln riecht. 

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