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Die Kunst, nicht durchzudrehen

Jürgen Nerger – 28. Oktober 2025

Ein intellektuelles Handbuch für Krisenkommunikation

Während die Welt versucht, sich in Echtzeit selbst zu retten, optimieren wir den Tonfall. Kommunikationsstrateg:innen entwerfen Guidelines für den nächsten Blackout, Marketingabteilungen diskutieren, ob "authentisch" noch zeitgemäß klingt, und irgendwo zwischen Krieg, Klimawandel und Künstlicher Intelligenz erscheint das wöchentliche Unternehmens-Update: "Bleibt positiv – gemeinsam stark durch turbulente Zeiten."

Die Apokalypse hat jetzt ein Corporate Design.

Das alles wäre vielleicht komisch, wenn es nicht so irre konsequent wäre.

Wir leben in einer Dauerkrise, die sich scheinbar professionell managen lässt. Das Handbuch dafür existiert auch schon längst: Es trägt den Titel "Krisenkommunikation" und enthält beruhigende Vokabeln wie "proaktiv reagieren", "Empathie zeigen", "Stakeholder informieren"

Oder kurz gesagt: Wir meditieren über das Feuer, während das Haus brennt.

Nur eines steht leider nicht drin, in diesem Handbuch: was zu tun ist, wenn das System selbst die Krise ist.

I. Worte werden Reflexe

Die erste Reaktion auf jedes Unheil ist heute kein Schrei, sondern ein Statement. Kaum passiert etwas, liegen Formulierungen bereit, die weder trösten noch aufrütteln, sondern nur den Anschein von Kontrolle erzeugen.

"Wir nehmen die Situation sehr ernst" ist das Vaterunser der Gegenwart.

Die Worte sind so glatt, dass man direkt darauf ausrutscht. Die Welt ist es ganz und gar nicht. Strategie bedeutet längst nicht mehr, vorauszudenken, sondern die gesamte Fassade in Echtzeit zu reparieren. Wir kommunizieren uns hektisch, ja fast fanatisch durch das Desaster. Möglichst höflich, differenziert und mit perfekt abgestimmter Krisen-Farbpalette.

Der Ausnahmezustand wird mal mehr, mal weniger souverän moderiert, nur leider selten verstanden. Während irgendwo ein Algorithmus den nächsten Empörungszyklus lostritt, optimiert im Nebenraum jemand das Wording der nächsten Pressemitteilung. So klingt Fortschritt, wenn er die Luft anhält.

II. Unser täglich Brot heißt Krise

Früher gab es Krisen und dazwischen so etwas wie Ruhe. Heute ist Krise der Aggregatzustand der Welt. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft – alle operieren im Modus "Störung". Das System hat keinen Defekt. Es ist der Defekt.

Das Erschreckende daran: Wir haben uns längst daran gewöhnt.

Unternehmen arbeiten mit "Krisenhandbüchern", Agenturen mit "agilen Prozessen", Privatpersonen mit "Achtsamkeits-Apps". Resilienz ist das neue Wachstum. Wir leben nicht mehr gegen die Krise. Wir leben mit ihr.

Als wäre sie ein kauziger, schwieriger Kollege, den man besser nicht direkt anspricht. Der Ausnahmezustand ist inzwischen eine komplette Infrastruktur. Und wer das verstanden hat, hat sogar einen echten strategischen Vorteil:

Er weiß, dass Planung eine Fiktion ist, aber Haltung nicht.

III. Im Metaversum der Vernunft

Die größte Ironie der Gegenwart: Ausgerechnet im Moment der permanenten Unsicherheit wächst unser Vertrauen in Simulationen.

Wir simulieren Märkte, Vertrauen, Sinn, Emotionen und manchmal sogar Nähe. Algorithmen lernen Empathie, Avatare lächeln überzeugender als Menschen, und Unternehmen führen Gespräche mit Chatbots, die sie selbst für Kolleg:innen halten.

Wir wissen, dass alles fragil ist, also entwerfen wir Workshops zur Stabilität.

Wir wissen, dass nichts stabil bleibt, also meißeln wir Purpose-Statements in Granit.

Wir wissen, dass Kommunikation längst mehr Schein als Sein ist und nennen das Transparenz.

Das Problem ist nicht, dass die Simulation lügt. Das Problem ist, dass sie beruhigt.

Und wer beruhigt ist, denkt nicht mehr.

IV. Gegen den Kontrollverlust

Was also tun, wenn nichts mehr funktioniert, aber alles weiterlaufen soll?

Wenn man in einem System kommunizieren muss, das man eigentlich dekodieren möchte? Willkommen im Handbuch für strategisches Überleben!

  1. RADIKALE KLARHEIT
    Sag, was ist – nicht, was du gerne hättest.
    Worte sind keine Wattebäusche, sondern Werkzeuge. Wer in der Krise floskelt, produziert nur noch mehr Rauch.
  2. HUMOR ALS WAFFE
    Ironie ist kein Zynismus, sondern eine Form der geistigen Selbstverteidigung.
    Nur wer lachen kann, verliert nicht die Orientierung.
  3. REALISMUS VOR OPTIMISMUS
    Hoffnung ist kein Kommunikationsziel.
    Sie ist ein Nebenprodukt von Ehrlichkeit.
  4. WIDERSPRUCH AUSHALTEN
    Die Welt ist komplex. Nur PR-Statements sind einfach. Widerspruch ist kein Risiko, sondern die Restform von Intelligenz.
  5. LANGSAMKEIT ALS STRATEGIE
    Geschwindigkeit erzeugt Missverständnisse. Wer langsamer spricht, hört sich auch selbst wieder zu.

V. Und jetzt: Alle durchatmen

Die wahre Krise liegt gar nicht im Chaos, sondern im Versuch, dieses Chaos zu glätten. Strategie war nie die Kunst, etwas zu kontrollieren, sondern immer nur, etwas zu begreifen. Man kann keine Ordnung in eine Welt bringen, die sich aus Prinzip widersetzt, aber man kann entscheiden, ob man die nächsten Sätze als Panikreaktion schreibt oder als Versuch, wieder eine Sprache zu finden, die auch etwas meint.

Die Welt wird also nicht an ihren Konflikten scheitern, sondern an der Unfähigkeit, sie zu artikulieren.

Und wer die Krise managt, bevor er sie versteht, der hat sie leider auch verdient.

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