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Die höfliche Apokalypse

Jürgen Nerger – 21. Oktober 2025

Tausende Bots wollen „nur kurz was fragen“. Eine Reportage über das Ende echter Akquise.

Die Gegenwart hat ein Geräusch. Es klingt wie eine Mischung aus Wasserkocher, Callcenter und Zahnarztbohrer.

„Nur zehn Minuten, um Ihr Wachstum zu verdoppeln!“

„Ich will Sie nicht stören – aber …“

„Letzter Versuch, dann hake ich das ab!“

Es ist Montag, 9:12 Uhr. Ich öffne mein Postfach und habe das Gefühl, auf einem digitalen Basar gelandet zu sein, auf dem jeder Verkäufer das Gleiche schreit, nur mit anderer KI-Stimme. Das Erstaunliche daran: Niemand scheint mehr zu merken, dass das nicht Kommunikation ist, sondern kollektive Dauerbelästigung. Die Tools, die uns eigentlich Zeit sparen sollten, haben sie uns endgültig gestohlen. Nicht den Absendern, wohlgemerkt. Den Empfängern. Es ist, als würde ein Staubsaugervertreter aus den 80ern plötzlich Zugriff auf Satelliten bekommen. Und er nutzt sie, um mir um 9:13 Uhr eine Follow-up-Mail zu schicken. Betreff: „Kleines Nudge :)“. Um 9:15 Uhr kommt: „Letzter Versuch, dann hake ich das ab.“ Ich hoffe wirklich jedes Mal, er meint es ernst.

Die moderne Akquise hat sich von ihrem Gegenüber emanzipiert. Sie spricht nicht mehr mit Menschen, sie spricht über sie hinweg. Wie ein schlecht trainierter Papagei, der auf jedes Profilbild mit „Ich liebe Ihre Arbeit!“ antwortet. Automatisierung, sagen die einen. Fortschritt, sagen die anderen. Ich nenne es höflich verpackte Invasion. Direkt aus der Hölle. 

Und ja, das klingt alles ein bisschen nach Boomer-Beschwerde, aber machen wir uns nichts vor: Wer heute ernsthaft glaubt, eine generische LinkedIn-Nachricht könne irgendwen überzeugen, hat vermutlich auch mal gedacht, Faxgeräte seien „die Zukunft der Kommunikation“. 

Das Problem ist größer als Spam.

Es ist ein systemisches Missverständnis: Reichweite wurde schlicht mit Relevanz verwechselt. Die Logik lautet: Wenn ich nur genug Menschen anbrülle, wird schon jemand antworten. Tut auch jemand. Irgendwann. Und diese eine Antwort reicht, um das Desaster zu rechtfertigen. In der Ökonomie nennt man das „externe Effekte“. Einer optimiert seinen Funnel, der Rest bezahlt mit seiner Zeit, seinem Fokus und einem dauerverklebten Gehirn.

Man kann es auch anders ausdrücken: Jede Spam-Mail ist eine kleine Steuer auf Aufmerksamkeit. Zwei Minuten Lesezeit, zwanzig Minuten Aggression. Die Kosten trägt immer der, der sich eigentlich auf etwas anderes konzentrieren wollte.

Ich habe neulich mit einem Freund gesprochen, der stolz verkündete, er habe seine Akquise „voll automatisiert“. Zehntausend Mails pro Woche, perfekt getimt, KI-optimiert. „Und wie läuft’s?“, fragte ich. Er grinste. „Drei Rückmeldungen.“ Ich nickte. „Und 9.997 Feinde.“

Klar, Effizienz klingt natürlich sexy. Riecht nach Fortschritt, nach Startup-Office mit Mooswand. Aber irgendwann kippt sie. Wenn alles schnell, glatt und skalierbar wird, bleibt kein Platz mehr für das, was Menschen überzeugt: Mühe. Humor. Kontext. Das kleine Zeichen, dass jemand nicht einfach eine Liste, sondern mich gemeint hat. Das eigentliche Problem ist nicht Spam, sondern Faulheit mit Tools. KI ist ja nicht böse. Nur unheimlich bequem. Und Bequemlichkeit ist die neue Form von Rücksichtslosigkeit.

Es gibt übrigens Alternativen. Kleine, unsexy Dinge, die wenigstens nach Handarbeit riechen. Eine Mini-Case-Study vielleicht statt Kaltmail. Eine offene Q&A-Session statt Pitch-Marathon. Oder die gute alte Empfehlung, die man sich verdient. Ein einziges ehrliches Intro ist immer noch mehr wert als 5000 kalte Mails, die nach Warmstart klingen.

Ich kenne jemanden, der verschickt keine Werbung mehr. Nur noch eine Zeile: „Ich habe gesehen, was ihr macht. Ich glaube, ich kann das besser. Wollen wir mal drüber reden?“ Funktioniert angeblich erstaunlich gut. Wahrscheinlich, weil man hört, dass da irgendwo jemand atmet.

Anders gesagt: Die Zukunft wird nicht von Maschinen bedroht, sondern von Menschen, die sich wie solche benehmen.

Und solange wir lieber automatisieren als verstehen, bleibt Kommunikation das höflichste Missverständnis der Gegenwart.

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