2026 - Odyssee im Kreativraum
Jürgen Nerger – 17. Juni 2025Zwischen Tool, Tempo und Bedeutungslosigkeit: eine Reise durch die Agentur von morgen.
1. Log-in erfolgreich. Realität unklar.
Die Kaffeemaschine summt immer noch wie früher. Alles andere wirkt … irgendwie verschoben. Die Junior-Texterin spricht in Prompts. Der Artdirektor zeigt ein Layout, das von Midjourney generiert wurde – „nur mal als Vorschlag“. Und aus der Beratung kommt der Satz: „Das AI-Konzept vom Kunden ist schon ziemlich gut – da müssen wir nur noch drüber bügeln.“ Irritiert schaust du dich um. Alles ist wie immer – und doch ist nichts mehr, wie es war. Willkommen im Jahr 2026. Willkommen in deiner eigenen Agentur!
2. System veraltet. Keine Updates verfügbar.
Früher war die Agentur ein Kreativtempel mit Abteilungen wie Kirchenbänken: Beratung vorne, Konzept in der Mitte, Kreation links und rechts, hinten die Produktion – und über allem die Geschäftsführung, die den Überblick behalten sollte. Briefings wurden geschrieben wie kleine Romane. Pitches waren Theaterstücke mit tragischer Fallhöhe. Und zwischen Moodboards und Mediaplänen gab es Platz für große Ideen – und den berühmten „Geistesblitz in der Nacht“. Heute ist vieles davon ein Ritual ohne Echo. Nicht falsch, aber leider auch nicht mehr relevant. Das Betriebssystem, auf dem die meisten Agenturen laufen, stammt aus einer Zeit vor Slack, vor Figma, vor ChatGPT. Es ist in etwa so, als würde man mit einem Röhrenfernseher Netflix schauen wollen.

3. Funktion unklar. Ziel unbekannt.
Was ist eine Agentur im Jahr 2026? Produktionsstätte? Ideengenerator? PowerPoint-Friedhof? Oder ein Ort, an dem Bedeutung verhandelt wird? Nicht mehr: „Wir machen das Werbemittel schön.“ Sondern: „Was soll dieses Format bewirken – und bei wem?“ Die Agentur wird zur Übersetzerin zwischen Welten: Zwischen Kunde und Gesellschaft. Zwischen Trend und Haltung. Zwischen Tool und Kultur.
4. Sie haben Ihr Berufsbild erfolgreich überschrieben.
Die klassische Rollenverteilung bricht zusammen, wie ein schlecht gepflegtes Kanban-Board. Der Texter schreibt nicht mehr – er kuratiert, editiert, formt Aussagen, die andere Tools erzeugt haben. Die Art Direktorin ist nicht mehr nur Bildästhetin, sondern auch Prompt-Architektin und Stil Wächterin. Die Projektmanagerin kämpft nicht mehr mit Excel, sondern mit Ethikfragen, Tool-Frust und Timelines, die sich stündlich ändern. Und dann sind da neue Rollen, die noch niemand so richtig benennen kann: Kulturübersetzer? Tool-Skeptiker? Entscheidungsethiker? Prompt Psychologe? Klingt übertrieben? Vielleicht. Aber irgendjemand muss ja erklären, warum wir diesen Output wählen – und was er eigentlich bedeutet.
5. Zu viel gesehen. Zu wenig verstanden.
Kunden kommen heute oft schon mit halbfertigen Ideen. Mit einem Prompt, der „eigentlich schon ganz gut aussieht“. Mit Strategien aus LinkedIn-Slides. Mit der Frage: „Könnt ihr das noch ein bisschen emotionalisieren?“ Die Agentur wird zum Sparringspartner. Oder besser: zum kulturellen Navigationssystem. Nicht, weil der Kunde dumm ist – im Gegenteil. Er ist überfüttert, überfordert, orientierungslos. Und sucht nicht mehr nur einen Dienstleister, sondern jemanden, der weiß, wie man aus Möglichkeiten Verantwortung macht.

6. Bezahlung bestätigt. Bedeutung offen.
Früher wurde Zeit verkauft: Personentage, Kreativleistung, Reinzeichnung, Korrekturschleifen. Heute verkauft man Sinnstiftung in einer überproduzierten Welt. Nicht mehr: „Was kostet der Spot?“ Sondern: Was kostet ein Spot in einer Welt, in der Tools schneller sind als Teams – und trotzdem niemand weiß, ob irgendjemand hinsieht? Früher wurde der Spot kalkuliert – nach Aufwand, Drehtagen, Schnittstunden. Heute wird er bewertet – nach Relevanz, Resonanz, Richtung. Der Preis ist nicht verschwunden. Aber er ergibt sich aus der Entscheidung: Was muss wirklich entstehen – und was nicht mehr? Agenturen, die das nicht verstehen, pitchen weiter, bauen makellose Decks – und verlieren gegen den Algorithmus, der schneller scrollt, als sie denken.
7. Neugründung oder Nachsitzen?
Wenn du heute eine Agentur gründest, brauchst du zuerst einen klaren Gedanken – aber der allein reicht nicht. Du brauchst ein System, das diesen Gedanken auch trägt und eine Organisation, die Entscheidungen nicht nur zulässt, sondern verlangt. Die Vorstellung, man könne „alles offenhalten“ und auf Jobtitel, Zuständigkeiten oder Markenführung verzichten, war ein schöner Reflex auf die Überstrukturiertheit der Alten Welt. Aber Offenheit ist ja noch kein Konzept. Und Haltung braucht Form. Jobtitel? Braucht man. Nur eben neue. Nicht die alte Hierarchie von Texter, Artdirektor, CD. Sondern neue Rollen: Kontextarchitektin? Formatentwickler? Kulturübersetzerin? Jobs für Menschen, die nicht nur etwas ausführen, sondern Verantwortung für Denkprozesse übernehmen.
Corporate Design? Absolut. Aber nicht als Verpackung.
Sondern als Ausdruck einer inneren Logik. Eine CI, die nicht Uniform ist – sondern System zur Verständlichkeit. Flexibel, aber wiedererkennbar. Nicht um zu glänzen, sondern um Haltung sichtbar zu machen, auch dann, wenn man gerade nicht sendet. Und ja, du brauchst auch immer noch eine Marke. Einerseits, um dich zu positionieren, andererseits weil du weißt, wofür du nicht arbeitest. Was du nicht reproduzierst. Welche Sprache du nicht mitträgst. Gründen heißt nicht mehr nur: etwas Neues beginnen. Es heißt: Verantwortung für Bedeutung übernehmen. Und wenn du schon seit zwanzig Jahren dabei bist? Dann ist der Umbau keine Option, sondern Realität. Die Frage ist nur:
Wie tief willst du eingreifen – bevor du dich selbst verlierst?
Es geht nicht darum, die Vergangenheit zu verleugnen. Deine Erfahrungen sind kein Ballast – sie sind Kapital. Aber du musst sie neu buchstabieren: Nicht als Beweis von Kontinuität, sondern als Rohstoff für Relevanz. Das bedeutet auch: Du kannst nicht länger nur zeigen, was du gemacht hast. Du musst erklären, was du heute anders machen würdest. Die größte Gefahr für etablierte Agenturen ist nämlich nicht, dass ihnen die Kunden davonlaufen. Es ist, dass sie sich selbst wiederholen, während sich alles andere längst weitergedreht hat. Und dieser Umbau ist kein kosmetischer Eingriff. Er beginnt da, wo es wehtut: Im Abschied von Methoden, die einmal funktioniert haben. Im Loslassen von Routinen, die dir Sicherheit gaben – aber längst keine Wirkung mehr. Vielleicht musst du deine Teams neu zusammensetzen. Vielleicht musst du deine Sprache ändern. Vielleicht musst du sagen: Das können wir – aber wir machen es nicht mehr. Was du aber auf keinen Fall tun solltest: So zu tun, als wäre das hier nur eine Phase. Es ist keine.
Es ist ein Systemwechsel.

8. Zwischen Sehnsucht und Systemabsturz.
Kreativität war einmal ein Versprechen. Ein Beruf mit Schrammen, Espresso, Eitelkeit und der leisen Hoffnung, dass man mit Ideen etwas bewegen kann. Heute ist sie: kalkulierbar, verwertbar, ersetzbar. Das muss nicht schlecht sein. Aber es ist eine andere Entscheidung geworden, in einen kreativen Beruf zu gehen oder in ihm zu bleiben. Man folgt nicht mehr der Romantik eines Lebens zwischen Dichtern, Denkern, Designern – sondern betritt einen Raum, in dem Denkprozesse optimiert und Ergebnisse evaluiert werden wie Ads im Split-Test. Wer diesen Raum neu denkt, ihn nicht glorifiziert, aber auch nicht verrät, kann eine Agentur bauen, die nicht einfach nur überlebt, sondern Haltung verkauft, Verantwortung gestaltet, und dem digitalen Rauschen ein echtes Echo entgegensetzt. Die Agentur der Zukunft überzeugt nicht durch Output. Sondern durch Verantwortung für das, was sie gestaltet.
Ob einem das dann noch Spaß macht, steht auf einem ganz anderen Blatt.